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Die venezianischen Wehrtürme

Zu den vielen bemerkenswerten Sehenswürdigkeiten der Insel Naxos gehören die venezianischen Wehrtürme – Zeugnisse einer bewegten Zeit. Keine andere Insel der Ägäis besitzt so viele Wehrtürme wie Naxos.

Nachdem der venezianische Kreuzfahrer Marco Sanudo die Insel Naxos im Jahr 1207 erobert hatte, teilte er sie unter seine gut 50 Gefährten auf und ernannte diese zu Feudalherren (wobei er reichere griechische Landbesitzer in ihrem Besitz ließ und auch Land in Nutzung nahm, das damals unbesiedelt war). Die venezianischen Feudalherren errichteten sich in den Dörfern oder auf ihren Ländereien wehrhaft angelegte Landhäuser, in denen sie sich den Sommer über aufhielten, während sie den Winter in ihren Herrenhäusern im Kastro der Chóra verbrachten.

Die Wehrtürme waren ursprünglich so gebaut, dass sie sich leicht verteidigen ließen. Im untersten Stockwerk befanden sich bei manchen Türmen keine Fenster oder Türen; allgemein waren die Fenster klein. Andere Türme hatten Türen auch im unteren Stock, aber diese führten nur in die dort befindlichen landwirtschaftlichen Räume ohne inneren Treppenzugang zu den Wohnräumen in den oberen Stockwerken. Der Eingang zum Wohnbereich des Turms lag in beiden Fällen im zweiten Stock und war nur über eine Leiter oder eine Brücke oder eine sehr steile, leicht zu verteidigende Treppe zu erreichen.


Der venezianische Wehrturm von Agiá im Norden von Naxos besitzt keine Türen oder Fenster im unteren Stockwerk; die Eingangstür im zweiten Stock ist nur über eine sehr steile Treppe zu erreichen.


Am Wehrturm in Chalkí führt eine große, vom Turm getrennte Treppe zum ersten Stock hinauf; die Eingangstür war aber nur über eine einziehbare Brücke zu erreichen. Der Vorbau am Fenster oberhalb des Eingangs diente vermutlich ebenfalls der Verteidigung, z.B. für das Herabschütten von heißem Öl.

Die heutigen venezianischen Wehrtürme der Insel stammen überwiegend nicht aus dieser frühen Zeit, sondern sind jüngeren Datums, vor allem aus dem 17. und 18. Jahrhundert, als die Insel schon unter türkischer Oberherrschaft stand. Viele der Wehrtürme sind heute verfallen; einige wenige sind noch bewohnbar bzw werden noch bewohnt.

Der Wehrturm von Kourounochóri

Der älteste erhaltene Wehrturm der Insel steht in Kourounochóri bei Mélanes. Er stammt aus dem 14. Jahrhundert und gehörte der Familie Sanudo, war also die Landresidenz des Herzogs der Insel. Bei diesem Wehrturm wurde im Jahr 1383 der letzte Herzog der Familie Sanudo, Nicolo dalla Carcere, von Franziskus Crispi ermordet, der danach zum Herzog der Ägäis ernannt wurde. Im 19. Jahrhundert gehörte der Turm der aus Konstantinopel stammenden griechischen Adelsfamilie Frangopoulos, die zum katholischen Glauben übergetreten waren. Als der 1833 nach der Befreiung Griechenlands als König eingesetzte bayrische Prinz Otto bei einem Besuch auf die Insel Naxos kam, weilte in diesem Turm.

Wie alle venezianischen Wohntürme der Insel war der Turm in Kourounochóri wehrhaft angelegt und besaß urspünglich keine Fenster und Türen im Erdgeschoss. Der im zweiten Stock gelegene Eingang war nur über eine steile Treppe oder eine Zugbrücke zu erreichen; erhöhte Mauern auf dem Dach sowie ummauerte Vorsprünge in der Mitte der Seiten, von denen aus große Steine herabgeworfen werden konnten, dienten der Verteidigung. Charakteristisch für die venezianischen Wehrtürme sind die kleinen Zackentürmchen auf dem Dach.


Dieser heute nicht mehr genutzte und zum Verkauf stehende Wehrturm in Kourounochóri stammt aus dem 14. Jahrhundert und ist der älteste erhaltene venezianische Wehrturm der Insel (Foto von Dieter Linde).

Die Geschichte der Familie Kókkos

Mehrere Wehrtürme der Insel gehörten der griechischen Familie Kókkos. Konstantinos Kokkos, der bekannteste Angehörige der Familie, war politisch sehr aktiv und wurde zum Vertreter der Dörfler und zum Richter ernannt. Er setzte sich unermüdlich für die Rechte der armen griechischen Bauern ein. In den Jahren 1670 und 1681 führte er zwei Aufstände gegen die Feudalherren an. Dadurch machte er sich bei diesen natürlich extrem unbeliebt, was damit endete, dass er im Jahr 1687 brutal ermordet wurde. Die Tat wurde von Franziskus Barozzi begangen, der ihm zusammen mit mehreren anderen katholischen Adeligen nahe der Stadt auflauerte. Die Vertreter der Dörfer der Insel und des Stadtviertel Burgos schickten einen langen, von vielen Priestern und Bürgern der Insel unterzeichneten Brief an den Admiral der venezianischen Flotte, mit dem sie die Bestrafung dieses Mordes am hochgeschätzten Anführer der Naxioten ersuchten, schon allein um weitere Feindseligkeiten zu unterbinden, jedoch ohne Erfolg. Die venezianische Flotte war in dieser Zeit immer noch auf den Kykladen tätig, ständig mit der osmanischen Flotte um die Seeherrschaft in der Ägäis konkurrierend; etwa fünf Jahre zuvor hatten die Venezianer die Insel Naxos kurzfristig wiedererobert, mit der Hoffnung, das Herzogtum der Ägäis wiederherzustellen, hatten sie aber bald wieder an die Osmanen verloren.

Zwei Jahre später übten die Anhänger des Konstantinos Kokkos Rache für den Mord, indem sie den Schwiegervater von Franziskus Barozzi, Chrousis Coronello, der die Tat angestiftet haben sollte, bei Kaloxylos ermordeten. So entstand eine erbitterte Fehde zwischen den beiden Familien. Die Familie Kokkos zog sich ins wehrhafte Kloster Ypsilotéras bei Galíni (nahe Engarés) zurück, das von Konstantinos Kokkos im Jahr 1660 errichtet worden war und in dem nun sein Sohn Ambrosios Abt war. Wenige Tage nach der Ermordung des Coronello stifteten die aufgebrachten Katholiken von Naxos den Piraten Reimond de Modene, der sich mit einer Fregatte im Hafen befand, dazu an, gemeinsam mit Anführern der katholischen Feudalherren unter Jakob Coronello, dem Sohn des Ermordeten, das Wehrkloster Ypsilotéras zu überfallen. Nach einer mehrtägigen Belagerung, die mehreren Bewohnern des Klosters das Leben kostete, gelang es den Verteidigern, heimlich in der Nacht zu fliehen. Dabei ließen sie die damals vierjährige Tochter von Konstantinos Kokkos zurück, befürchtend, dass das Kind sie durch Weinen verraten würde; sie hofften, dass die Angreifer dem Kind nichts zuleide tun würden. Tatsächlich nahmen diese das Mädchen mit, und sie scheint zumindest eine zeitlang in der Chóra gelebt zu haben und soll im katholischen Glauben aufgezogen worden sein.

Durch das erneute Blutvergießen wurde nun auch die venezianische Admiralität auf die Vorgänge aufmerksam und verhaftete sowohl den Abt Ambrosios Kokkos und zwei seiner Mitstreiter als auch den naxiotischen Anführer der Angreifer Jakob Coronello. Erst deutlich später gelang es nach weiterem Blutvergießen den Kapuzinern der Chóra, die durch die Ereignisse bitterlich verfeindete katholische und orthodoxe Kirche der Insel wieder einigermaßen auszusöhnen. Um der blutigen Fehde endgültig ein Ende zu bereiten, vereinbarten die Familien Kokkos und Barozzi schließlich, ihre Kinder zu vermählen, und die kleine Annoúsa wurde dem Sohn des Franziskus Barozzi versprochen. Gemäß der lokalen Tradition verliebte dieser Sohn namens Tsabatís sich unsterblich in die schöne Annoúsa, die er im Wehrturm der Familie bei Potamiá erblickte, und auch sie erwiderte die Liebe des schönen jungen Mannes, mit dem Ergebnis, dass er sie entführte und die beiden gegen den Willen ihrer Familien heirateten und so die Feindschaft beendeten. Sie lebten im Wehrturm der Familie Barozzi in Chalkí, der noch lange „Turm der Annoúsa“ genannt wurde, während die Mutter von Annoúsa, die Witwe des Konstantinos, bis zu ihrem Tod im Wehrturm bei Potamiá lebte.

In diesem Wehrturm im Tal von Potamiá lebte die Familie Kókkos.

Am Gebäude ist der Wappen des Konstantínos Kókkos angebracht – rechts und links sind seine Anfangsbuchstaben K und K eingeritzt.

Über der Tür steht der Spruch: „Es ist nützlich für das Leben, sich des Todes zu erinnern“. Die Buchstaben darunter stehen für das Jahr 1686.“

Wie in vielen Wehrtürmen wurden auch hier landwirtschaftliche Tätigkeiten durchgeführt: Im Keller befinden sich die Überreste einer Wassermühle und einer Ölmühle.

Dieser Wehrturm ist bis heute mit der romantischen Liebesgeschichte von Tsabatís Barózzi und Annoúsa Kókkou verknüpft, die heirateten, obwohl Annoúsas Vater vom Vater von Tsabatís ermordet worden war.

Das Kloster Ypsilotéras bei Galíni wurde im Jahr 1600 von der Familie Kokkos errichtet. Es war von einer hohen Wehrmauer umgebenen und sehr wehrhaft gebaut. Das Kloster diente der Familie Kokkos als Festung im Freiheitskampf gegen die katholischen Feudalherren sowie auch als Fluchtburg für die Bauern der Umgebung im Fall von Kämpfen oder Piratenüberfällen (Foto von Dieter Linde).

In diesem Wehrturm in Chalkí lebte die Familie Barozzi; hier wohnten Tsabatís und Annoúsa nach ihrer Heirat. Von der Bevölkerung von Chalkí wurde der Wehrturm noch lange „Turm der Annoúsa“ genannt.


Wappen oberhalb des Eingangs zum Turm: Während der Turm ursprünglich der Familie Barozzi gehörte und das Wappen dieser Familie mit der Jahreszahl 1742 über der Eingangstür in den Turm selbst prangt, befindet sich am Eingang zum Hof dieses Wappen des englischen Konsuls G. Frangopoulos, der ab dem Jahr 1816 auf Naxos tätig war und, der Inschrift zufolge, den Turm instandsetzte.

Weitere Wehrtürme der Insel

Gut erhalten und heute noch bewohnt ist der Wehrturm Belónia bei Galanádo.

Er stammt aus dem Jahr 1610.


Oberhalb des Dorfes Engarés liegt ein weiterer venezianischer Wehrturm im fruchtbaren Flusstal; dieser wurde 1787 erbaut.


Über der Tür sieht man das Wappen des Erbauers Andronikos Prantounas, der als katholischer Kirchenvorsteher der Metropole in Naxos und des Kosters Chrysóstomos tätig war.


Ein übermauerter Brunnen in der Nähe stammt aus derselben Zeit.


Die winzige verlassene Siedlung Skepóni im Nordwesten der Insel war ebenfalls ein Feudalsitz.


Hier sieht man den kleinen „Wehrturm“ von Skepóni. Er wurde möglicherweise vom Sohn Markos des Spaniers Francesco Coronello erbaut, der die Insel unter Joseph Nasi in den letzten Jahrzehnten des Herzogtums regierte, und dessen Familie sich auf der Insel ansiedelte.


In Filóti liegt ein eher kleiner Wehrturm im Taleinschnitt zwischen den beiden Dorfhälften.


Dieser Turm gehörte der Familie Barozzi, die sich aus Venedig kommend erst auf Santorin, dann auf Kreta angesiedelt hatte. Vor dort aus kam sie Ende des 15. Jahrhunderts nach Naxos. Wie bei allen älteren Wehrtürmen war das obere Stockwerks des Turmes mit den Wohnräumen nur über eine hölzerne Leiter zur Tür im zweiten Stock zugänglich (am heutigen Balkon).


Der erste Angehörige der Familie Barozzi, der nach Naxos kam, war der 1619 verstorbene Georgetto Barozzi. Er heiratete eine Tochter des Hauses Crispi, die das Dorf Filóti als Feudalbesitz in die Ehe brachte.


Über dem Tor zum Garten sieht man noch heute das Wappen des „Geronimos Barozzi“ mit der Jahreszahl 1718.


In Apíranthos gibt es mehrere venezianische Wehrtürme, von denen der größte und am besten erhaltene heute der griechischen Familie Zevgólis gehört, die ihn noch bewohnt.


Der Wehrturm stützt sich auf einen abenteuerlichen Rundbogen. Er stammt aus dem 17. Jahrhundert und wurde von der Familie Kástri errichtet.


Der venezianische Wehrturm von Agiá befindet sich in einer heute kaum noch besiedelten Ecke im Nordwesten von Naxos in etwa 200 Metern Meereshöhe auf einem kleinen Bergrücken oberhalb eines fruchtbaren, wasserreichen Tals. Er ist der eine von nur zwei Wehrtürmen der Insel, die vom Meer aus sichtbar sind. Ursprünglich gehörte er vermutlich der Familie Kokkos. Er war bis 1992 bewohnt, als er ausbrannte und weitgehend zerstört wurde.


Wie die meisten venezianischen Wehrtürme von Naxos hat er einen viereckigen Grundriss und drei Stockwerke. Fenster hat nur das oberste Stockwerk; in den unteren befinden sich lediglich schmale Schießscharten. Typisch für die venezianischen Wehrtürme sind die Zackentürmchen auf dem Dach.


Der sehr niedrige Eingang zum Turm liegt im ersten Obergeschoss und ist nur über eine steile Treppe zu erreichen.

Außer den venezianischen Wehrtürmen wurden auch einige wenige Wehrtürme auf Naxos von den Griechen errichtet, insbesondere die zwei Wehrtürme des Márkos Polítis in Keramí und Akadími. Márkos Polítis war der Anführers des griechischen Widerstandes sowohl gegen die Venezianer als auch gegen die Türken; er gründete gemeinsam mit anderen Anführern des Widerstandes und mit Würdenträgern der Kirche die als Kirche getarnte erste orthodoxe Schule auf Naxos und wurde schließlich von den Türken hingerichtet.


Der große Wehrturm des Márkos Polítis in Akadími ist einer der wenigen Wehrtürme, die von Griechen errichtet wurden.

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verwendete Literatur: „Η Ιερά Μονή Παναγίας της Υψιλοτέρας εις Εγκαρές Νάξου“, Νίκος Κεφαλληνιάδης, Ναξιακή Πρόοδος, 1966 (zur Verfügung gestellt von Herrn Chr. Ucke, dem hiermit herzlich gedankt sei)