Zu den vielen bemerkenswerten Sehenswürdigkeiten der Insel Naxos gehören die venezianischen Wehrtürme – Zeugnisse einer bewegten Zeit. Keine andere Insel der Ägäis besitzt so viele Wehrtürme wie Naxos.
Nachdem der venezianische Kreuzfahrer Marco Sanudo die Insel Naxos im Jahr 1207 erobert hatte, teilte er sie unter seine gut 50 Gefährten auf und ernannte diese zu Feudalherren (wobei er vor allem damals unbesiedeltes Land in Nutzung nahm, während er reichere griechische Landbesitzer in ihrem Besitz ließ). Die venezianischen Feudalherren errichteten sich in den Dörfern oder auf ihren Ländereien wehrhaft angelegte Landhäuser, in denen sie sich den Sommer über aufhielten, während sie den Winter in ihren Herrenhäusern im Kastro der Chóra verbrachten.
Die heutigen venezianischen Wehrtürme der Insel stammen überwiegend nicht mehr aus dieser ersten Zeit (dem 13. Jahrhundert), sondern sind jüngeren Datums, vor allem aus dem 17. und 18. Jahrhundert, d.h. aus der Zeit, als die Insel schon unter türkischer Oberherrschaft stand.
Die Insel Naxos unter türkischer Oberherrschaft
Der türkische Sultan Selim II ernannte nach der Absetzung und Inhaftierung des letzten venezianischen Herzogs Jakob Crispi im Jahr 1566 einen ehemals aus Portugal stammenden Juden namens Joseph Nasi zum Herzog der Ägäis. Dieser war ein sehr reicher und politisch ambitionierter Händler und Bankier – wohl der politisch einflussreichste Jude seiner Zeit. Er kam selbst nicht auf die Insel, sondern ließ die Regierung durch einen Spanier namens Francesco Coronollo ausführen, der ebenfalls jüdischer Herkunft war, jedoch das Christentum angenommen hatte, so dass er den Wohlgefallen der katholischen Familien der Insel fand; aber auch von den orthodoxen Griechen der Insel wurde er akzeptiert, und erwies sich überhaupt als beliebtester „Regent“ der Geschichte des Herzogtums.
Der Herzog Joseph Nasi erwirkte, unterstützt von der Frau des Sultans, einer durch Barbarossa entführten katholischen Adelstochter von Paros, dass sich keine Türken auf Naxos ansiedeln durften, so dass sich die türkische Oberherrschaft auf der Insel vergleichsweise wenig auswirkte. Den Naxioten wurde eine gewisse Freiheit zugestattet, z.B. durften sie mit gewissen Einschränkungen ihre Religion ausüben und ihren Besitz vererben. Auf der anderen Seite blieb im Herzogtum auf diese Weise das Feudalsystem auch während der osmanischen Oberherrschaft weiter erhalten (offiziell bis 1721, aber de facto noch länger), was für die einfache Bevölkerung mit der Zeit eine kaum zu tragende Belastung bedeutete: noch im Jahr 1835, d.h. nach der Befreiung Griechenlands, beklagten sich die Bauern von Apiranthos bei einem deutschen Geologen, dass sie zwei Drittel(!) ihrer Ernte an die katholischen Landbesitzer abgeben mussten.
Die venezianischen Feudalherren der Insel waren abgesehen von Reibereien mit der unterdrückten und ausgebeuteten griechischen Bevölkerung nahezu ständig in Kämpfe mit ihren Nachbarn, d.h. den katholischen Feudalherren der Nachbarinseln, mit den konkurrierenden Genuesen sowie anfangs mit den Byzantinern und später den Türken verwickelt, und mussten sich häufiger Überfälle durch Piraten katholischer, arabischer, katalanischer, türkischer und später auch griechischer Nationalität erwehren. Aus diesem Grund hatten die Venezianer zwei starke Festungen auf der Insel errichtet, das Kastro in der Chóra und das Apáno Kástro zwischen den fruchtbaren Tälern von Potamiá und der Tragaía. Auch ihre Landhäuser legten sie als Wehrtürme an, so dass sie einem Angriff oder einem Piratenüberfall widerstehen konnten. Es gibt an die 60 derartige Wehrtürme auf der Insel, wobei die meisten heute vefallen sind; einige sind jedoch gut erhalten und manche werden auch heute noch bewohnt. Die Wehrtürme liegen zum Teil in den größeren Dörfern der Insel, aber die meisten befinden sich auf dem Land, besonders in den landwirtschaftlich stärker genutzten Gebieten wie den wasserführenden, fruchtbaren Tälern.
Abgesehen von ihrer Funktion als Verteidigungsbauten im Falle eines feindlichen Angriffs oder Piratenüberfalls bzw bei einer Auflehnung der Untergebenen dienten die Wehrtürme als landwirtschaftliche und herrschaftliche Zentren der Feudalherren der Insel: Bei oder in vielen Wehrtürmen befanden sich Wassermühlen, Ölmühlen oder Töpferöfen sowie andere Zeugnisse der landwirtschaftlichen Produktion. Außerdem hatten die Wehrtürme eine repräsentative Funktion und bezeugten eindrucksvoll die Macht und Identität ihrer Besitzer, was den katholischen Adelsfamilien um so wichtiger wurde, je mehr sie im Lauf der Jahrhunderte der türkischen Oberherrschaft verarmten. Westliche Reisende auf der Insel beschreiben die ihnen lächerlich erscheinende Angewohnheit der Feudalherren, bei der Rückkehr im Herbst von ihrer Landresidenz in ihr Herrenhaus im Kastro der Chóra in einem langen Zug in die Stadt einzuziehen, wobei ihre 30 oder 40 griechischen Untergegeben ihnen ihren Hausrat hinterhertragen mussten, eine Pflicht, die den Griechen besonders verhasst war. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Widerstand der Griechen gegen die Feudalherren organisierter und effektiver, so dass sich schließlich die katholischen Familien kaum noch aus ihren Wehrtürmen herauswagen konnten. Erst um die Zeit der Befreiung Griechenlands wurde das Feudalsystem endgültig beendet, obwohl die Feudalherrschaft schon 100 Jahre zuvor offiziell abgeschafft worden war. Heute sind die meisten Türme im Besitz griechisch-orthodoxer Familien.
Der Wehrturm von Kourounochóri
Der älteste erhaltene Wehrturm der Insel steht in Kourounochóri bei Mélanes. Er stammt aus dem 14. Jahrhundert und gehörte der Familie Sanudo, war also die Landresidenz des Herzogs der Insel. Bei diesem Wehrturm wurde im Jahr 1383 der letzte Herzog der Familie Sanudo, Nicolo dalla Carcere, von Franziskus Crispi ermordet, der danach zum Herzog der Ägäis ernannt wurde. Im 19. Jahrhundert gehörte der Turm der aus Konstantinopel stammenden griechischen Adelsfamilie Frangopoulos, die zum katholischen Glauben übergetreten waren. Der 1833 nach der Befreiung Griechenlands als König eingesetzte bayrische Prinz Otto verweilte in diesem Turm bei einem Besuch auf Naxos.
Wie alle venezianischen Wohntürme der Insel war der Turm in Kourounochóri wehrhaft angelegt und besaß urspünglich keine Fenster und Türen im Erdgeschoss. Der im zweiten Stock gelegene Eingang war nur über eine steile Treppe oder eine Zugbrücke zu erreichen; erhöhte Mauern auf dem Dach sowie ummauerte Vorsprünge in der Mitte der Eiten, von denen aus große Steine herabgeworfen werden konnten, dienten der Verteidigung. Charakteristisch für die venezianischen Wehrtürme sind die kleinen Zackentürmchen auf dem Dach.
Dieser heute nicht mehr genutzte und zum Verkauf stehende Wehrturm in Kourounochóri stammt aus dem 14. Jahrhundert und ist der älteste erhaltene venezianische Wehrturm der Insel (Foto von Dieter Linde).
Die Geschichte der Familie Kókkos
Mehrere Wehrtürme der Insel gehörten der griechischen Familie Kókkos. Konstantinos Kokkos, der bekannteste Angehörige der Familie, war politisch sehr aktiv und wurde zum Vertreter der Dörfler und zum Richter ernannt. Er setzte sich unermüdlich für die Rechte der armen griechischen Bauern ein. In den Jahren 1670 und 1681 führte er zwei Aufstände gegen die Feudalherren an. Dadurch machte er sich bei diesen natürlich extrem unbeliebt, was damit endete, dass er im Jahr 1687 brutal ermordet wurde. Die Tat wurde von Franziskus Barozzi begangen, der ihm zusammen mit mehreren anderen katholischen Herren nahe der Stadt auflauerte. Die Vertreter der Dörfer der Insel und des Stadtviertel Burgos schickten einen langen, von vielen Priestern und Bürgern der Insel unterzeichneten Brief an den Admiral der venezianischen Flotte, mit dem sie die Bestrafung dieses Mordes am hochgeschätzten Anführer der Naxioten ersuchten, schon allein um weitere Feindseligkeiten zu unterbinden, jedoch ohne Erfolg. Die venezianische Flotte war in dieser Zeit immer noch auf den Kykladen tätig, ständig mit der osmanischen Flotte um die Seeherrschaft in der Ägäis konkurrierend; etwa 5 Jahre zuvor hatten die Venezianer die Insel Naxos kurzfristig wiedererobert, mit der Hoffnung, das venezianische Herzogtum wiederherzustellen, hatten sie aber bald wieder an die Osmanen verloren.
Zwei Jahre später übten die Anhänger des Konstantinos Kokkos Rache für den Mord, indem sie den Schwiegervater von Franziskus Barozzi, Chrousis Coronello, der die Tat angestiftet haben sollte, bei Kaloxylos ermordeten. So entstand eine erbitterte Fehde zwischen den beiden Familien. Die Familie Kokkos zog sich ins wehrhafte Kloster Ypsilotéras bei Galíni (nahe Engarés) zurück, das von Konstantinos Kokkos im Jahr 1660 errichtet worden war und in dem nun sein Sohn Ambrosios Abt war. Wenige Tage nach der Ermordung des Coronello stifteten die aufgebrachten Katholiken von Naxos den Piraten Reimond de Modene, der sich mit einer Fregatte im Hafen befand, dazu an, gemeinsam mit Anführern der katholischen Feudalherren unter Jakob Coronello, dem Sohn des Ermordeten, das Wehrkloster Ypsilotéras zu überfallen. Nach einer mehrtägigen Belagerung, die mehreren Bewohnern des Klosters das Leben kostete, gelang es den Verteidigern, heimlich in der Nacht zu fliehen, wobei sie die damals vierjährige Tochter von Konstantinos Kokkos zurückließen, damit das Kind sie nicht durch Weinen verriete; sie hofften, dass die Angreifer dem Kind nichts zuleide tun würden. Tatsächlich nahmen diese das Mädchen mit, und sie scheint zumindest eine zeitlang in der Chóra gelebt zu haben und soll im katholischen Glauben aufgezogen worden sein.
Durch das erneute Blutvergießen wurde nun auch die venezianische Admiralität auf die Vorgänge aufmerksam und verhaftete sowohl den Abt Ambrosios Kokkos und zwei seiner Mitstreiter als auch den naxiotischen Anführer der Angreifer Jakob Coronello. Erst deutlich später gelang es nach weiterem Blutvergießen den Kapuzinern der Chóra, die durch die Ereignisse bitterlich verfeindete katholische und orthodoxe Kirche der Insel wieder auszusöhnen. Um der blutigen Fehde endgültig ein Ende zu bereiten, vereinbarten die Familien Kokkos und Barozzi schließlich, ihre Kinder zu vermählen, und die kleine Annoúsa wurde dem Sohn des Franziskus Barozzi versprochen. Gemäß der lokalen Tradition verliebte dieser Sohn namens Tsabatís sich unsterblich in die schöne Annoúsa, die er im Wehrturm der Familie bei Potamiá erblickte, und auch sie erwiderte die Liebe des schönen jungen Mannes, mit dem Ergebnis, dass er sie entführte und die beiden gegen den Willen ihrer Familien heirateten und so die Feindschaft beendeten. Sie lebten im Wehrturm der Familie Barozzi in Chalkí, der noch lange „Turm der Annoúsa“ genannt wurde, während die Mutter von Annoúsa, die Witwe des Konstantinos, bis zu ihrem Tod im Wehrturm bei Potamiá lebte.
In diesem Wehrturm im Tal von Potamiá lebte die Familie Kókkos.
Am Gebäude ist der Wappen des Konstantínos Kókkos angebracht – rechts und links sind seine Anfangsbuchstaben K und K eingeritzt.
Über der Tür steht der Spruch: „Es ist nützlich für das Leben, sich des Todes zu erinnern“. Die Buchstaben darunter stehen für das Jahr 1686.“
Wie in vielen Wehrtürmen wurden auch hier landwirtschaftliche Tätigkeiten durchgeführt: Im Keller befinden sich die Überreste einer Wassermühle und einer Ölmühle.
Dieser Wehrturm ist bis heute mit der romantischen Liebesgeschichte von Tsabatís Barózzi und Annoúsa Kókkou verknüpft, die heirateten, obwohl Annoúsas Vater vom Vater von Tsabatís ermordet worden war.
Das Kloster Ypsilotéras bei Galíni wurde im Jahr 1600 von der Familie Kokkos errichtet. Es war von einer hohen Wehrmauer umgebenen und sehr wehrhaft gebaut. Das Kloster diente der Familie Kokkos als Festung im Freiheitskampf gegen die katholischen Feudalherren sowie auch als Fluchtburg für die Bauern der Umgebung im Fall von Kämpfen oder Piratenüberfällen (Foto von Dieter Linde).
In diesem Wehrturm in Chalkí lebte die Familie Barozzi; hier wohnten Tsabatís und Annoúsa nach ihrer Heirat. Von der Bevölkerung von Chalkí wurde der Wehrturm noch lange „Turm der Annoúsa“ genannt.
Weitere Wehrtürme der Insel
Gut erhalten und heute noch bewohnt ist der Wehrturm Belónia bei Galanádho.
Er stammt aus dem Jahr 1610.
Oberhalb des Dorfes Engarés liegt ein weiterer venezianischer Wehrturm im fruchtbaren Flusstal; dieser wurde 1787 erbaut.
Über der Tür sieht man das Wappen des Erbauers Andronikos Prantounas, der als katholischer Kirchenvorsteher der Metropole in Naxos und des Kosters Chrysóstomos tätig war.
Ein übermauerter Brunnen in der Nähe stammt aus derselben Zeit.
Die winzige verlassene Siedlung Skepóni im Nordwesten der Insel war ebenfalls ein Feudalsitz.
Hier sieht man den kleinen „Wehrturm“ von Skepóni. Er wurde möglicherweise vom Sohn Markos des Spaniers Francesco Coronello erbaut, der die Insel unter Joseph Nasi in den letzten Jahrzehnten des Herzogtums regierte, und dessen Familie sich auf der Insel ansiedelte.
In Filóti liegt ein eher kleiner Wehrturm im Taleinschnitt zwischen den beiden Dorfhälften.
Dieser Turm gehörte der Familie Barozzi, die sich aus Venedig kommend erst auf Santorin, dann auf Kreta angesiedelt hatte. Vor dort aus kam sie Ende des 15. Jahrhunderts nach Naxos. Wie bei allen älteren Wehrtürmen sind die Eingänge und Fenster des Erdgeschosses nachträglich eingebaut worden; ursprünglich war der Turm nur über eine steile Treppe oder hölzerne Leiter zur Tür im zweiten Stock zugänglich (am heutigen Balkon).
Der erste Angehörige der Familie Barozzi, der nach Naxos kam, war der 1619 verstorbene Georgetto Barozzi. Er heiratete eine Tochter des Hauses Crispi, die das Dorf Filóti als Feudalbesitz in die Ehe brachte.
Über dem Tor zum Garten sieht man noch heute das Wappen des „Geronimos Barozzi“ mit der Jahreszahl 1718.
In Apíranthos gibt es mehrere venezianische Wehrtürme, von denen der größte und am besten erhaltene heute der griechischen Familie Zevgólis gehört, die noch in ihm wohnt.
Der Wehrturm stützt sich auf einen abenteuerlichen Rundbogen. Er stammt aus dem 17. Jahrhundert und wurde von der Familie Kástri errichtet.
Der venezianische Wehrturm von Agiá befindet sich in einer heute kaum noch besiedelten Ecke im Nordwesten von Naxos in etwa 200 Metern Meereshöhe auf einem kleinen Bergrücken oberhalb eines fruchtbaren, wasserreichen Tals. Er ist der eine von nur zwei Wehrtürmen der Insel, die vom Meer aus sichtbar sind. Ursprünglich gehörte er vermutlich der Familie Kokkos. Er war bis 1992 bewohnt, als er ausbrannte und weitgehend zerstört wurde.
Wie die meisten venezianischen Wehrtürme von Naxos hat er einen viereckigen Grundriss und drei Stockwerke. Fenster hat nur das oberste Stockwerk; in den unteren befinden sich lediglich schmale Schießscharten. Typisch für die venezianischen Wehrtürme sind die Zackentürmchen auf dem Dach.
Der sehr niedrige Eingang zum Turm liegt im ersten Obergeschoss und ist nur über eine steile Treppe zu erreichen.
siehe auch:
- Die venezianische Epoche
- Agios Artemios bei Kinidaros
- Der Wehrturm und das Kloster von Agia
- Geschichte
- Sehenswürdigkeiten
- Festungen und Wehrtürme
zum Weiterlesen:
- Kastra.eu: Über den Turm in Kourounochóri (auf griechisch)
- OreinosAxotis: Die Geschichte des Turms der Kókkoi in Potamiá und des Tsabatís Barózzi und der Annoúsa Kókkou (auf griechisch)
- Οι Πύργοι και οι Οχυφωμένες Κατοικίες των Νησιών του Αιγαίου και της Πελοπόννησου (14ος με 19ος Αιώνας) – Μια Ιστορικοπολιτισμική Προσέγγιση με Έμφαση στην Περίπτωση της Νάξου
verwendete Literatur: „Η Ιερά Μονή Παναγίας της Υψιλοτέρας εις Εγκαρές Νάξου“, Νίκος Κεφαλληνιάδης, Ναξιακή Πρόοδος, 1966 (zur Verfügung gestellt von Herrn Chr. Ucke, dem hiermit herzlich gedankt sei)