Das antike Heiligtum bei Flerio

Nahe beim altbekannten Koúros von Flerió (Mélanes) ist in den letzten Jahren ein antikes Heiligtum ausgegraben worden, in dem die Schutzgötter des Steinbruchs und der nahegelegenen Quellen verehrt wurden. Es handelt sich um eines der ältesten Heiligtümer der Insel, das bis in die geometrische Epoche zurückreicht.

Das kleine Tal von Flerió ist außergewöhnlich wasserreich. Es gibt zwar heute keinen richtigen fließenden Fluss mehr, aber starke Quellen, die das ganze Jahr über Wasser führen. Die nächste kleine Siedlung heißt Míli (Mühlen), nach den Wassermühlen, die hier einst betrieben wurden. Auch die umliegenden Täler sind wasserreich: Im Tal von Potamiá im Süden sowie im benachbarten Tal im Norden, das bei Engarés mündet, fließt das ganze Jahr über Wasser, so dass hier ein schmaler Streifen Auwald nicht nur mit Platanen und Erlen, sondern (einzigartig auf Naxos) sogar mit Weiden (Salix alba, Silberweide) gedeihen kann. Das Wasser der Quellen von Flerió wurde in der Antike über eine Wasserleitung zur Chóra geleitet, um die große Siedlung dort mit Wasser zu versorgen.


Im Tal, an dem das Heiligtum und der antike Steinbruch liegen, fliesst auch heute noch Wasser und es gedeihen riesige Platanen und Oleander.


Entsprechend der Wasserreichtums der Gegend wurde hier seit alters her viel Landwirtschaft betrieben. Auch heute noch werden die umliegenden Felder bebaut, vor allem mit Gemüse und Obstbäumen.

Das Heiligtum von Flerió war einer Schutzgöttin der Quellen, also einer Fruchtbarkeitsgöttin, geweiht. Außerdem wurden hier auch die beiden Heroen der Insel, die Halbgötter Otos und Ephialtis, als Schutzgottheiten der nahegelegenen Steinbrüche verehrt. In der Nähe des Heiligtums hat man eine antike Inschrift mit ihren Namen gefunden (OROS TEMENOS TOU OTOU KAI EPHIALTOU = Grenze des (heiligen) Bezirks des Otos und Ephialtis).


Blick auf das Ausgrabungsgelände vom gegenübergelegenen Hügel


Das Gelände des Heiligtums wurde vor seiner Ausgrabung landwirtschaftlich genutzt und ist mit Ölbäumen bestanden.

Ein markanter Marmorblock auf dem Gelände wurde offenbar als besonders heilig angesehen; er symbolisierte die chthonischen Kräfte der Heroen, die imstande waren, Marmorfelsen zu bewegen. Neben diesem Felsen wurde im 8. Jahrhundert v. Chr. (in der geometrischen Epoche) ein erstes Tempelgebäude errichtet. Es war aus kaum bearbeiteten Steinen gefertigt, hatte ein Größe von 5,4 x 6,4 Metern und besaß ein ebenes Dach, das von zwei hölzernen Säulen getragen wurde; diese standen auf sorgfältig gearbeiteten marmornen Basen, bei denen es sich um die ersten derartigen bekannten Säulenbasen handelt. Westlich des Tempelgebäudes lag eine offene Terrasse, auf der die Opfer dargebracht wurden. Nördlich anschließend wurde ein Umfassungswall errichtet. Im Süden des Geländes lag ein weiteres, kleines, dreiräumiges Gebäude, das zur Bereitung der rituellen Mahle diente.


Der heiligste Platz des Heiligtums war dieser Marmorblock. Links davon und nach vorn ist die östliche Wand des ersten Tempelgebäudes erkennbar; links hinten der Umfassungswall.


Direkt neben dem heiligen Felsen lag ein kleines Gebäude aus dem 8. Jhd. v. Chr., das als Tempel diente. Das Gebäude wurde im 6. Jahrhundert beschädigt, als der obere Teil des Marmorblockes abrutschte, und danach notdürftig repariert; der östlichste Teil des Gebäudes wurde durch eine rechts im Bild erkennbare Wand abgetrennt.

Im 7. Jahrhundert, zwischen 640 und 625 v. Chr. in der archaischen Epoche<, wurde neben dem ersten Gebäude ein neues, größeres errichtet (4,5 x 7,4 m), das nun als Tempel diente. Das erste Gebäude wurde zum Hilfsgebäude umfunktioniert. Der neue Tempel wurde so ausgerichtet, dass die ehemals auf der westlichen Terrasse gelegene Brandopferstelle, offenbar eine besonders heilige Stätte, genau in der Mitte des Gebäudes zu liegen kam. Im 6. Jahrhundert wurde diese Stätte mit Steinen bedeckt und von einem halbkreisförmigen Steinbogen umgeben.

Besonders beachtenswert ist die marmorne Türschwelle des Gebäudes. Auf ihr sind an den Enden die Spuren von den ehemaligen ebenfalls steinernen Türrahmen zu erkennen; unten wird sie durch steinerne Quader abgestützt. In derselben Weise wurden später die steinernen Tore der wichtigen naxiotischen Tempel, des Dionysos in Íria, der Demeter in Sangrí und des Apollon auf der Palastinsel bei der Chóra errichtet, aber auch der naxiotischen Gebäude in Delos sowie des nach den naxiotischen Vorbildern errichteten Erechteion der Akropolis in Athen. Derartige Tore und Türschwellen sind ein wichtiges Element der inselionischen Tempelarchitektur. Die für die bekannte Portára, das Tor des unfertigen Apollon-Tempels bei der Chóra, verwendeten Marmorblöcke stammen hier aus dem Steinbruch von Flerió.


Direkt neben dem ersten Gebäude wurde im 7. Jahrhundert später ein zweites, größeres errichtet. Die Türschwelle dieses Gebäudes ist ganz links vorn erkennbar; im Hintergrund sieht man den Steinbogen, der die nun im Tempel gelegene Opferstelle markiert.


der Marmorblock und die zwei Gebäude des Heiligtums daneben von der Hinterseite

Südwestlich der Tempelgebäude wurden im 7. Jahrhundert zwei Terrassen zur Darbietung von Brandopfern errichtet, nachdem das neue Tempelgebäude einen Teil der alten Terrasse überdeckt hatte. In den Ecken dieser Terrassen sind die Felsen vom Feuer der Brandopfer rötlich verfärbt. Auf den Terrassen wurden die Überreste der Opfer (Asche, Knochen, Bruchstücke von Tontöpfen, Bronzestücke…) in flachen Gruben hinterlassen, die mit runden Schieferplatten, die man von den Felsen östlich des Heiligtums holte, oder später teilweise auch mit Tonscheiben bedeckt wurden. Die Terrassen wurden bis ins 6. Jhd. v. Chr. für Opferdarbietungen benutzt.


Auf diesen Terrassen wurden die Brandopfer dargebracht. Ganz links sind die von den Feuern geröteten Stellen erkennbar.


Die Asche wurde in kleinen Gruben hinterlassen, die mit runden Schieferplatten, später teilweise auch mit Tonscheiben, abgedeckt wurden.

Im 6. Jahrhundert v. Chr. wurde ein neuer, winzig kleiner Tempel im südlicheren Teil des Geländes des Heiligtums errichtet. Seine Fundamente bestehen aus ungewöhnlich großen Marmorblöcken, die wohl in besonderer Weise die großen Kräfte der Heroen Otos und Ephialtis veranschaulichen sollten. Die Wände waren aus behauenen Marmorquadern errichtet, das Giebeldach mit Marmordachziegeln gedeckt, wie später auch an den anderen naxiotischen Tempeln (z.B. Demeter-Tempel). Vor dem Tempel ist die Basis einer Säule erkennbar, auf der ehemals eine Statue oder eine Sphinx stand.


Auf dem Gelände des Heiligtums sind die Fundamente eines kleinen Tempelgebäudes aus dem 6. Jhd. v. Chr. zu erkennen; im Vordergrund die Basis einer Säule, auf der eine Statue oder eine Sphinx gestanden haben mag.

Bei der Ausgrabung des Geländes kamen außer den Gebäudefundamenten auch viele interessante Hinterlassenschaften seiner Besucher und der Arbeiter in den Steinbrüchen zutage, sowie unfertige oder beschädigte Marmorstatuen.

Östlich schließt sich an den Bereich des Heiligtums ein felsiges Gelände an, teilweise mit Marmor, der hier ebenfalls Bearbeitungsspuren trägt, teilweise mit plattigem Schiefer, aus dem die Besucher des Heiligtums die runden Schieferplatten zum Abdecken der Brandopfer herstellten. In diesem Bereich sind traditionelle tönerne, flachliegende Bienenstöcke zu sehen, wie sie ganz ähnlich auch in der Antike schon benutzt wurden. Ein sorgfältig aus Steinplatten gefertigter Dreschplatz zeugt des weiteren von der landwirtschaftlichen Nutzung des Geländes.


Neben dem Heiligtum sind auf einem kleinen Gelände traditionelle Bienenstöcke zu sehen, die ganz auf dieselbe Art in liegenden Tonkrügen angebracht sind wie in der Antike (hier mit Gittern abgedeckt).


Auch der Dreschplatz auf dem Gelände zeugt von der landwirtschaftlichen Nutzung.


Blick vom Heiligtum auf das Gebiet des ehemaligen antiken Steinbruchs; der eine Kouros liegt etwa in der Bildmitte im kleinen Einschnitt in der Vegetation, der andere weiter links oberhalb auf einem kleinen braun erscheinenden Gelände am hinteren Hang.

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