Die Kykladenidole
Die bekanntesten aus Stein gefertigten Artefakte der Kykladenkultur sind ohne Zweifel die Marmoridole. Diese einzigartigen Kunstwerke bezeugen besonders beeindruckend das handwerkliche Geschick und den Kunstsinn des Kykladenvolkes. Es handelt sich um meist zwei oder drei Dezimeter (bis 1,5 m) große, abstrahierte, einfach, aber oft sehr sorgfältig ausgeführte menschliche Figuren. Sie wurden fast ausschließlich in Gräbern gefunden. Es hat auch in der Steinzeit schon Steinfiguren gegeben, und auch in den angrenzenden Regionen spielen Idole aus Stein eine Rolle, aber nirgendwo wird in der Gestaltung der Idole eine solche ausdrucksstarke Perfektion, eine solche Klarheit und Eleganz erreicht wie hier. Die Kykladenidole waren weder bekannt noch geschätzt, bis in den 60er Jahren manche modernen Künstler auf sie aufmerksam wurden, was zu einem großen Aufschwung in Raubgrabungen und Schwarzmarkt-Handel führte. Es sind um die 3.000 Kykladenidole bekannt, von denen die meisten aus Raubgrabungen stammen.
Funde einzelner Marmoridole aus der Jungsteinzeit, die in Form und Ausführung den bronzezeitlichen Kykladenidolen ähneln, belegen, dass sich die Technik und Tradition der Idolfertigung vor Ort entwickelt hat. Die steinzeitlichen Idole zeigen im Gegensatz zu den späteren Idolen eine rundere, vollere, betonter weibliche Form.
Bei diesem neolithisches Marmoridol von Naxos (Sangrí) sieht man die für die Idole der Jungsteinzeit typische volle, weibliche Körperform. Trotz der abweichenden Form kann man dieses frühe Idol doch klar als einen Vorläufer der Kykladenidole erkennen.
Charakteristische Merkmale der Kykladenidole sind die schlanke, flache Form, die meist weder stehende noch liegende Haltung mit leicht angewinkelten Beinen und Füßen, die über dem Bauch übereinander liegenden Arme (fast immer linker Arm oben), der flache, leicht zurückgeneigte Kopf mit leicht vorstehender, dreieckiger Nase und das meist weibliche Geschlecht, das jedoch mit den als kleine Wölbungen dargestellten Brüsten und dem eingeritzten Schamdreieck (im Gegensatz zu den wohlgerundeten steinzeitlichen Idolen) nur angedeutet ist.
Es können eine ganze Reihe unterschiedlicher Idol-Typen mit speziellen Merkmalen unterschieden werden. So gibt es außer der oben beschriebenen typischen Form auch sehr schematische „Violin-förmige“ Idole, bei denen die menschliche Körperform nur angedeutet ist, sowie gelegentlich auch Idole in anderer Körperhaltung, so sitzende Figuren oder männliche Idole mit Musikinstrumenten oder einem Becher in der Hand oder auch Gruppen aus zwei oder drei Idolen, die beispielsweise aufeinander stehen.
einfaches „violinförmiges“ Idol mit nur angedeuteter menschlicher Form
Selten kommen sitzende Idole vor.
Viele Idole sind in ihren Umrissen sehr sorgfältig geformt und ausgearbeitet. Dagegen sind die Details wie die Arme, Finger, Zehen, Becken und Schamdreieck sowie der Spalt zwischen den Beinen und manchmal eine Linie auf dem Rücken zur Andeutung der Wirbelsäule meist nur als gerade, leichte Einritzungen mit einer Feile eingearbeitet. Nur manchmal sind die Arme rund ausgeführt, vor allem bei den früheren Idolen, was zeigt, dass die Künstler diese Einfachheit in der Ausarbeitung bewusst wählten und sie nicht auf mangelnde Technik zurückzuführen ist. Auffällig ist die unnatürliche Gestaltung des Kopfes mit langem, dickem Hals, oft „leierartiger“ Kopfform mit der breitesten Stelle am oberen Ende und leicht zurückgeneigter Haltung. Die dreieckige Nase ist etwas vorstehend ausgearbeitet, die Ohren sind manchmal angedeutet. Details wie Augen und Mund waren offenbar teilweise(?) aufgemalt. Irgendetwas muss die merkwürdige Kopf- und Körperhaltung der Idole den Kykladenmenschen bedeutet haben – aber was?
Während gesamte Figur sehr sorgfältig geformt und geglättet ist, sind die Einzelheiten wie Arme und Schamdreieck meist nur als einfache Einritzungen angedeutet. Am linke Idol sieht man die für einen bestimmten Idoltyp charakteristische „leierartige“ Kopfform.
Die Herstellung
Die Herstellung der Idole ist vermutlich durch die schönen, marmornen Strandkiesel, die man überall an der Küste finden kann, angeregt worden – manchmal sind den Toten tatsächlich nur einfache Strandkiesel mit ins Grab gegeben worden. Auch um die Gräber herum sind oft Strandkiesel gefunden worden: Sie müssen eine symbolische Bedeutung besessen haben. Die einfachen Violin-förmigen Idole wurden wohl aus Strandkieseln ausgearbeitet, die in ihrer flachen, länglichen Form den Idolen schon ähnelten. Zunächst verwendeten die Menschen für die Ausarbeitung nur Stein- und Holzwerkzeuge, vor allem Holzstücke mit Schmirgelpulver zum Schleifen. Erst in der mittleren Phase wurden auch Bronzemeißel benutzt, wodurch vielleicht die größere Anzahl der Figuren und ihre teilweise kompliziertere Form (z.B. Harfenspieler) erklärt werden kann.
Bei der Konzipierung der Figuren verwendeten die Künstler große Sorgfalt. Einheitliche Größenverhältnisse zeigen, dass sie Zirkel und Winkelmesser benutzten. Die Größenverhältnisse der ersten Figuren haben nichts mit den natürlichen Proportionen des menschlichen Körpers zu tun, die späteren nähern sich ihnen an. Meist entspricht die Breite der Figur einem Viertel, manchmal einem Drittel oder einem Fünftel der Länge. Oft sind die wesentlichen Linien des Idols durch drei, später zwei übereinander liegende, gleich große Kreise vorgegeben. Auch bestimmte Winkel werden auffällig häufig verwendet, nämlich die der Diagonalen eines Rechtecks mit Größenverhältnis der Seiten 5:8 oder einfache Ableitungen davon (in der ägyptischen Architektur sind dieselben Winkel von großer Bedeutung; und auch die minoischen Doppelaxt- und Steinmetz-Zeichen stellen diese Winkel dar). Oft haben mehrere ähnliche Figuren, die einem Künstler zugeschrieben werden, verschiedene Größe, aber gleiche Proportionen. Mithilfe von Lineal, Zirkel und Winkelmesser ritzten die Künstler vermutlich die gewünschte Form auf den rohen Steinen ein und arbeiteten sie dann langsam durch Schleifen in die Tiefe aus.
Die Funktion der Idole
Über die Bedeutung und Funktion der Idole ist viel spekuliert worden, ohne dass man zu überzeugenden Ergebnissen gelangt ist. Erschwert wird die Interpretation dadurch, dass die meisten bekannten Idole aus Raubgrabungen stammen, so dass die Fundumstände unbekannt sind.
Idole wurden fast ausschließlich in Gräbern gefunden, sie waren allerdings die seltenste Grabbeigabe. Meist weisen sie keine Spuren eines Gebrauchs auf; nur unter den frühen, stehenden Idolen gab es auch geflickte, also wohl „benutzte“ Stücke. Gelegentlich fand man große Idole, die zerschlagen worden waren, damit sie ins Grab passten, aber auch kleine Idole waren oft zerschlagen, oder man fand in den Gräbern nur Stücke, insbesondere Füße von Idolen.
Meist, jedoch nicht ausschließlich, handelt es sich um Frauenfiguren, die als Abbilder einer weiblichen Gottheit interpretiert werden; ihr Beigeben ins Grab bezeugt möglicherweise einen Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode, für das die Anwesenheit einer mütterlichen Gottheit von Bedeutung war. Einzelne Idole stellen jedoch auch Instrumentenspieler (Harfen, Flöten) oder Trinker mit einem erhobenen Becher dar (ja, schon vor 5.000 Jahren waren den Kykladenbewohnern Wein und Musik sehr wichtig…).
Religion
Über die Religion der Kykladen-Kultur ist nichts Sicheres bekannt. Auffällig ist das Fehlen von Tempeln, was vermuten lässt, dass Naturgötter unter freiem Himmel oder an einfachen Altären verehrt wurden. Man hat allerdings Stellen gefunden, die als Heiligtümer interpretiert werden, so ein auf der Hügelkuppe Koryfí t’Aronioú nördlich von Pánormos gelegenes Gebäude, an dem viele Steinplatten mit eingeritzten Motiven gefunden wurden. Diese stellen tanzende Menschen, Jagd- und Fischerei-Szenen sowie einen Hirsch auf einem Boot dar; sie sind möglicherweise als Weihegeschenke an die Gottheit oder als “Votivtäfelchen”, mit denen besonderer Beistand erfleht wurde, zu verstehen. Bei einem kleinen Gebäude auf Amorgos fand man Anzeichen für Brandopfer, die ja auch in der griechischen Antike noch sehr beliebt waren.
Diese elliptische Gebäudefundament auf dem Hügel Koryfí t’Aronioú wird als frühbronzezeitliches Heiligtum verstanden.
In diesem Schaukasten im archäologischen Museum in Apíranthos ist ein Teil der bei Koryfí t’Aronioú gefundenen Steinplatten mit Einritzungen ausgestellt.
Die einzige bekannte größere Kultstätte der Kykladenkultur (und die älteste Kultstätte Griechenlands, aus der mittleren Phase der Frühen Bronzezeit, also etwa 2.500 v. Chr.) befand sich auf der südöstlich von Naxos gelegenen, heute verlassenen Insel Kéros, auf der auch eine größere kykladische Siedlung lag. Hier fand man am Eingang einer heute eingestürzten Höhle Tausende von Scherben von Ton- und Steingefäßen, wie man sie als Grabbeigaben kennt, und eine große Anzahl von Idol-Bruchstücken sowie zahlreiche Menschenknochen. Überraschend ist die Tatsache, dass keine der Bruchstücke und Scherben zueinanderpassen: Es handelt sich offenbar nicht um vor Ort zerbrochene Gegenstände, sondern um extra herbei transportierte Teile, deren Deponierung hier also wohl eine rituelle Bedeutung hatte.
Der Forscher Chr. Doumas vermutet, dass die Kykladenmenschen glaubten, diese Höhle auf Kéros sei der Eingang zur Unterwelt. Während der mittleren Phase der Kykladenkultur war es üblich, die Gräber mehrfach zu benutzen, wobei jedes Mal die Knochen der vorigen Bestattung entfernt wurden, während der Schädel an seinem Platz gelassen wurde. Es sieht so aus, als seien die Knochen der vorigen Bestattungen sowie Bruchstücke der Grabbeigaben dann zu einer rituellen Niederlegung am Eingang zur Unterwelt nach Kéros gebracht worden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass man in Gräbern häufig nur Bruchstücke von Idolen gefunden hat, allerdings hauptsächlich Beine und Füße, aber keine Köpfe. Auch im Scherbenfeld von Kéros tauchen nur Beine und Füße von Idolen auf, was sicherlich kein Zufall ist. Über die genauen Hintergründe der hier vollzogenen Riten kann man allerdings nur spekulieren.
Blick von Pánormos auf die Inseln Koufoníssia und Kéros (die höhere Insel im Hintergrund).
Bruchstücke von Idolen im Museum von Apiranthos
Nach den wenigen erhaltenen Zeugnissen scheint es, dass die vorgriechischen ägäischen Kulturen keinem Vielgötterglauben anhingen wie die antiken Griechen, sondern an eine zentrale weibliche Gottheit glaubten, die als Mutter- und Fruchtbarkeitsgöttin verstanden werden muss. Auch in den neolithischen Kulturen des östlichen Balkans wurde eine weibliche Muttergottheit verehrt. Von Interesse ist ein antiker Bericht, laut dessen die Pelasger eine weibliche Gottheit verehrt hätten, die aus dem anfänglichen Chaos entstanden sei und die ganze Welt erschaffen habe. Ist diese Göttin vielleicht in den Kykladenidolen abgebildet? Auch zum Orient gab es gewisse Ähnlichkeiten in Kult und Religion; in Syrien wurde in der gleichen Zeit eine weibliche Gottheit als Herrscherin über Leben und Tod verehrt. Die Grabbeigaben lassen außerdem vermuten, dass die Menschen der Kykladenkultur an ein Weiterleben nach dem Tod oder an eine Wiedergeburt glaubten.
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