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Agios Artemios bei Kinidaros

Südlich des Kóronos-Massives, vom Dörfchen Keramotí bis Engarés an der Küste, verläuft eines der steilsten und tiefsten Täler der Insel Naxos. Das Tal ist ungewöhnlich wasserreich: Hier fließt der bedeutendste der sieben ganzjährig wasserführenden Flüsse der Insel. Nördlich von Kinídaros liegt in diesem Tal eine bemerkenswerte, große Kirche aus dem 18. Jahrhundert, der Heilige Artémios, die von Interesse für die Geschichte der Insel ist.

das Tal südlich des Koronos-Berges
Das Tal nördlich von Kinídaros; etwa in der Bildmitte liegt die Kirche des Heiligen Artemios.

In den schwierigen Jahren der türkischen Oberherrschaft über Griechenland, während der vielen Kriege zwischen dem Osmanischen Reich und Venedig und vor allem während des Russisch-Türkischen Krieges 1768 bis 1774 kamen vom Festland Griechenlands gebildete und aktive Mönche auf die vergleichsweise sicheren Kykladen, mit dem Ziel dort den Aufstand der Griechen gegen die türkischen Herrscher vorzubereiten und in die Wege zu leiten. Auf Naxos ließen sich mehrere Mönche vom Peloponnes in der abgelegenen, unzugänglichen, aber auch fruchtbaren Schlucht nördlich von Kinídaros nieder. Sie errichteten an der altbyzantinischen Kirche Ágios Dimítrios ein kleines Kloster, das etwa 12 Zellen umfasste und gründeten hier eine kleine Schule, in der sie illegal Kinder aus der Umgebung unterrichteten („kryfó scholeío“ = heimliche Schule).


Die kleine, heute verfallene Kirche Ágios Dimítrios stammt aus dem 9. Jahrhundert.


hier der Blick durch eine Fensteröffnung in die Kirche


Die neben der Kirche gelegenen Gebäude wurden im 18. Jahrhundert von aus dem Peloponnes eingewanderten Mönchen als Klosterzellen errichtet.

Zur selben Zeit begannen auch auf Naxos und den Nachbarinseln lebende Griechen sich dafür einzusetzen, dass orthodoxe Schulen gegründet wurden, in denen die griechische Bevölkerung unterrichtet und gebildet und so auf einen Aufstand vorbereitet werden sollte. So gründete der von der Insel Paros stammende Kapitän Nikos Mavrogénis auf den Kykladen vier Schulen (auf Naxos, Mykonos, Andros und Kea). Die Schule auf Naxos wurde als erste gegründet, nämlich im Jahr 1775. An der Gründung beteiligten sich außerdem der Metropolit von Paros und Naxos Ánthemos und der bedeutende und aktive Führer der Versammlung der Dörfer von Naxos Márkos Polítis sowie Abgeordnete der Gemeinde Búrgos in der Chora und Bischöfe benachbarter Inseln.

Ágios Artémios als Klosterschule

Obwohl es Dokumente über die Gründung der Schule gibt, war lange Zeit unklar, wo die Schule gelegen hat. Es spricht einiges dafür, dass für die ungewöhnliche Kirche des Ágios Artémios im Tal nördlich von Kinídaros als Gebäude für die naxiotische Schule errichtet wurde. Zunächst einmal ist es dafür von Bedeutung, dass an derselben Stelle schon eine von politisch aktiven Mönchen gegründete kleine Schule existierte. Auch die Lage inmitten der Insel und versteckt in einer abgelegenen Schlucht war für die Einrichtung einer illegalen Bildungsstätte sicher besonders günstig. Außerdem ist es unerklärlich, warum sonst fern von den Dörfern eine so große Kirche errichtet werden sollte.


Blick von der Kirche des Ágios Dimítrios auf die des Ágios Artemios

Die Kirche des Ágios Artémios war zur Zeit ihrer Gründung 1775 der größte Kirchenbau der Insel Naxos. Es handelt sich um eine dreischiffige Basilika von den Ausmaßen 20 mal 16 Meter. Erst in den folgenden Jahren wurden weitere Kirchen ähnlichen Ausmaßes errichtet: die Metropole von Naxos und die Dorfkirchen von Apíranthos und Filóti.

Bemerkenswert und ungewöhnlich sind auch die Architektur und die Ausstattung der Kirche. Das Gebäude ist ungewöhnlich sorgfältig vermessen und errichtet worden. Die Akustik in der Kirche ist ausgezeichnet und eine Reihe von Fenstern enlang der Seiten sorgten für eine gute Ausleuchtung des Innenraumes. Eine Kirchenkuppel fehlt, aber alle drei Schiffe weisen Apsiden auf (die runden Ausbuchtungen an der Ostseite, das Allerheiligste), wodurch sie alle getrennt als Kirchen funktionsfähig waren. Die Ausstattung der Kirche ist jedoch höchst einfach und beschränkt sich auf eine hölzerne Altarwand.


Äußerst ungewöhnlich für die nachbyzantinische Zeit ist die Gestaltung der Kirche als dreischiffige Basilika ohne Kuppel.


die Vorderseite der Kirche


Als wir die Kirche besuchen, ist die Tür zum mittleren Schiff mit Myrten geschmückt.


Die Inschrift über der Tür gibt an, dass die Kirche im Jahr 1780 vom Metropoliten Anthemos, vom Dragomanen Nik. Mavrogenis und vom Führer der Dörfer Markos Politis errichtet wurde.


Die drei Schiffe sind durch je fünf einfach gestaltete, niedrige Rundbögen voneinander getrennt.


Alle Schiffe sind gleichgestaltet und besitzen eine einfache Apsis (Rundung für den Altar am Ostende); hier das südliche Schiff.


Die Ausstattung der Kirche beschränkt sich auf eine hölzerne Altarwand.


Die Kirche ist durch Fenster entlang der Längsseiten und durch kleine Luken an der Westseite vergleichsweise gut ausgeleuchtet.


die Ostseite der Kirche mit den drei gleichgestalteten Apsiden


Die Kirche liegt inmitten von Gärten.


In der Nähe liegen diese schönen großen Felsblöcke, die wie ein heidnisches Denkmal wirken.

Brücke bei Kinidaros
Zur Kirche Ágios Artémios führt diese große Brücke, die sicher ebenfalls aus der Zeit der Errichtung der Kirche stammt.

Zusammen mit der Lage fern der Dörfer spricht diese ungewöhnlich Architektur und Ausstattung der Kirche dafür, dass der Bau in Wirklichkeit eben nicht als Kirche, sondern als Schule gedacht war. Die Gestaltung des Gebäudes als Kirche diente als Tarnung, da die orthodoxe Unterrichtung der Jugend von den türkischen Herrschern untersagt war. Außerdem handelte es sich um eine kirchliche Schule, in der die Schüler zu Geistlichen ausgebildet wurden; und die dreischiffige Gestaltung der Kirche entspricht offensichtlich einer Unterrichtung der Kinder in drei Stufen.

Unter den Lehrern an der Schule des Heiligen Artemios befanden sich zwei bedeutende Geistliche ihrer Zeit, der später heiliggesprochene Mönch Nikodimos, der aus Naxos stammte, und der Mönch Chrysanthos, Bruder des Heiligen Kosmas aus Aitolien. Eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten der orthodoxen Kirche ist aus der Schule hervorgegangen, nicht nur mehrere Äbte von naxiotischen Klöstern, sondern auch der spätere Bischof von Smyrna und ein weiterer Bischof, der sogar Patriarch von Konstantinopel wurde.

Márkos Polítis, Gründer der Schule und Anführer des griechischen Widerstandes auf Naxos

Márkos Polítis war der wichtigste Anführer des Widerstandes der naxiotischen Griechen sowohl gegen die venezianischen Feudalherren als auch gegen die türkische Oberherrschaft. Er errichtete zwei der wenigen Wohntürme in griechischem Besitz.


Hier der Turm des Márkos Polítis in Akadími bei Chalkí.


Der Turm des Márkos Polítis in Keramí aus der Ferne.

Die griechischen Anführer des Widerstands unter Márkos Polítis schafften es mit der Zeit, die Erträge aus der Landwirtschaft, die den venezianischen Feudalherren zustanden, zurückzuhalten. Dadurch verarmte der katholische Adel noch mehr; mit der Zeit konnten sich die Venezianer kaum noch aus ihren Wohntürmen herauswagen. Márkos Polítis, der selbst ein reicher Bürger war und den Bau gleich zweier Wohntürme finanzieren konnte, setzte sich dennoch so sehr für die Befreiung der griechischen Bevölkerung der Insel ein, dass er schließlich von den Türken nach Mykonos verbannt und dort hingerichtet wurde.

Nach der Hinrichtung von Márkos Polítis wurde sein Besitz, darunter anscheinend auch die Kirche, von den türkischen Herrschern beschlagnahmt, und die Schule wurde geschlossen. Die unterrichtenden Mönche ließen sich vermutlich an einem winzigen Kloster bei der nicht weit entfernt im Nordwesten gelegenen winzigen Siedlung Skepóni nieder, wo sie den Unterricht wohl in kleinerem Maßstab fortführten. Das Kirchenfest des Heiligen Artemios wurde in den späteren Jahren stets mit großem Aufwand und unter starker Beteiligung der Bevölkerung der umliegenden Dörfer begangen: Es handelte sich vermutlich in Wirklichkeit um Feiern zum Gedenken an Márkos Polítis, den vom Volk verehrten Helden des Widerstands sowohl gegen die venezianischen Feudalherren als auch gegen die türkische Oberherrschaft.

weiter: Die Wallfahrtskirche Panagia Argokiliotissa bei Koronos

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