Die Portara und der Apollon-Tempel in der Chora

Wahrzeichen der Insel Naxos ist das gigantische antike Tempeltor, die Portára. Es steht unübersehbar auf einer über eine Mole mit der Chóra verbundenen kleinen Insel („Palátia“) und begrüßt jeden Besucher schon bei der Ankunft im Hafen.

Hier findet man die Lage der Tempel und Heiligtümer bei Google Earth.


Blick auf die Insel Palátia von der Hafenmole aus


Die Insel ist mit der Chóra durch eine Mole verbunden.


Blick von der Portára auf die Chóra mit dem venezianischen Kastro; im Hintergrund ist der Zeus-Berg zu sehen.

Der Apollon-Tempel

Das monumentale Tempeltor, das „Tor an sich“, besteht aus vier etwa 6 Meter langen und über 1 Meter dicken Marmorblöcken, die immerhin je knapp 20 Tonnen wiegen. Es gehört zu einem nur noch in wenigen Fundamenten erhaltenen archaischen Tempel, der um 530 v. Chr. begonnen, jedoch nie ganz vollendet worden ist. Er war dem Gott Apollon geweiht, dem Gott der Künste und Wissenschaften, aber auch des Ackerbaus und der Vegetation sowie der Orakel, der Heilkunst und des Lichts, der auf seiner nahegelegenen Geburtsinsel Delos und in Delphi seine Hauptheiligtümer hatte. Die Naxier hatten auf Delos bedeutende Bauwerke und Statuen errichtet (die Löwenallee, der Oikos und die Stoa der Naxier, die Statue der Artemis und der 9 Meter hohe Apollon-Koloss, der größte je aufgestellte Kouros). Bis zum Jahr 540 v. Chr. hatten die Naxier die Vorherrschaft über die Insel Delos inne; danach mussten sie sie an das vom Tyrannen Peisistratos geführte Athen abgeben. Vielleicht wollten sie deswegen nun auf ihrer eigenen Insel einen monumentalen Apollon-Tempel errichten. Es wird angenommen, dass schon seit der frühen archaischen Zeit ein kleines Heiligtum des Apollon auf der Palastinsel gelegen hat. Der Bau des Tempels wurde unter dem naxiotischen Tyrannen Lygdamis (Herrschaft von 538 – 524 v. Chr.) begonnen, aber nie vollendet; vermutlich wurde er mit dem Sturz des Tyrannen aufgegeben.


Vom Tempel sind außer dem Tor nur noch wenige Überreste erhalten.

Das im „Insel-ionischen“ Stil errichtete Tempelgebäude war ungewöhnlich groß angelegt (15,4 x 36,85 m) und sollte die Stärke der Insel Naxos eindrucksvoll demonstrieren. Der Innenbau hatte ähnliche Ausmaße wie bei den größten Tempeln Griechenlands, nur dass diese häufig noch von einem Säulengang umgeben waren. Auch für den Apollon-Tempel von Naxos ist vermutet worden, dass ein umlaufender Säulenring (Peristasis) geplant war; derartiges ist aber bei genauerer Analyse wohl nicht haltbar. Das Dach der Innenhalle wurde von zwei Reihen von je 4 Säulen gestützt, die die 4 Meter langen marmornen Dachbalken trugen. Die Seitenwände des Tempels standen an beiden Seiten vor und bildeten von je zwei Säulen gestützte Antenhallen.


Hier sind die Fundamente des ehemaligen Tempelgebäudes zu sehen; im Vordergrund die Reste der südöstlichen Vorhalle.


Neben dem Tempel sind die Überreste weiterer, kleiner Gebäude gefunden worden.


Blick zurück auf die Chóra

Naxos als Zentrum der Marmorbearbeitung

In der Technik der Marmorbearbeitung waren die Naxier seit ihren frühesten Anfängen die Vorreiter gewesen und hatten Technik und Stil auch an ihre Nachbarn auf den übrigen Ägäisinseln und dem griechischen Festland weiter gegeben. Der Dionysos-Tempel nahe der Chóra, an dessen Stelle schon während der mykenischen Epoche ein kleines Heiligtum existierte, war einer der bedeutendsten Tempelbauten der Kykladen. Gemäß der Bedeutung, die Apollon als Gott der Künste und der Ordnung für die Marmorbildhauer und Tempelbauer besaß, hatten die Naxier diesem Gott den Hügel beim heutigen Dorf Apóllonas geweiht, auf dem der eine der Steinbrüche der Insel lag, aus dem das Material für alle diese Kunst- und Bauwerke stammte. Mit dem Tempel auf der „Palastinsel“ wollten sie dem Apollon offensichtlich einen monumentalen Tempel bauen, der ebenbürtig neben dem Tempel des Dionysos bei Íria stehen sollte.


Blick vom Hügel mit dem antiken Steinbruch auf das Dorf Apóllonas

Die Marmorblöcke, aus denen das Tempeltor konstruiert ist, stammen aus den Steinbrüchen bei Flerió; ein weiterer Stein, der wohl als noch größerer Türsturz des ehemals breiter geplanten Tores verwendet werden sollte, ist dort heute noch zu sehen; er ist offenbar auf dem Transport liegen geblieben. Am Heiligtum der Steinbrüche bei Flerió taucht übrigens in einem kleinen Tempelbau zum ersten Mal die auch bei der Portára angewandte Konstruktionsweise des Tempeltores auf.


Ansicht der antiken Steinbrüche bei Flerió


An diesem kleinen Tempel im Heiligtum bei den Steinbrüchen von Flerió wurde zum ersten Mal eine Türschwelle (im Bild links) in derselben Art konstruiert wie bei der Portára.

Details der Konstruktion der Portára und des Tempels

Auch abgesehen von der beeindruckenden Größe gibt die Konstruktionsweise der Portára den Archäologen einige Rätsel auf. Ungeklärt ist die Bedeutung der kleinen Vorsprünge an den Steinen; zum Transport können sie nach neueren Ansichten nicht gedient haben. Auf der vom Durchgang abgewandten, unsichtbaren Seite sind die Steine tief eingekerbt, vielleicht, um das Gewicht geringer zu halten. An der Außenseite sollten die Steine durch nicht fertiggestellte Faszien (vorspringende Schmuckstreifen) verziert werden. Das Tor war dicker als die Mauer und stand nach innen etwa 24 cm vor, was einigermaßen verwunderlich ist. Der Schwellenstein lag, ebenfalls höchst ungewöhnlich, höher als das Niveau des Fußbodens; auf beiden Seiten führten deswegen einige Treppenstufen zu ihm hinauf. Heute fehlt der mittelere Teil des unteren Steins: Bei der späteren Umwandlung des Tempels in eine Kirche, bei der der Fußboden noch weiter nach unten verlegt wurde, hat man aus der hinderlichen hohen Türschwelle das Mittelstück kurzerhand herausgesägt. Die ganze Konstruktionsweise des Tores ist kaum aus seiner Funktion als Eingang zu erklären. Die aufwändige und merkwürdige Gestaltung lässt vermuten, dass das Tor eine besondere Funktion bei den kultischen Handlungen erfüllte.


Der Mittelteil der gut einen Meter über dem Fußbodenniveau gelegenen Türschwelle wurde herausgesägt, als der Tempel in eine Kirche verwandelt wurde.


Die Steine des Tores sind an der nicht sichtbaren Seite „eingekerbt“, um das Gewicht geringer zu halten.


Auf der Außenseite des Tores sind die noch unfertigen Faszien (Schmuckbänder) und die Vorsprünge unbekannter Funktion erkennbar.

Merkwürdig ist auch die Ausrichtung des Tempels: Der Eingang liegt in nordwestlicher Richtung (etwa 320°). Laut manchen Angaben ist er nach der Insel Delos ausgerichtet; diese liegt aber ein ganzes Stück weiter nördlich. Im Gegensatz dazu waren die meisten antiken griechischen Tempel, wie auch die heutigen Kirchen, nach Osten orientiert. Auch die anderen beiden naxiotischen Tempel zeigen jedoch eine andersartige Ausrichtung: Der Tempel von Íria ist nach Süden ausgerichtet, und die zwei Tore des ungewöhnlichen Demetertempels liegen nach Südwesten. Möglicherweise ist für die Ausrichtung des Apollon-Tempels von Bedeutung, dass man durch das Tor entlang der Achse des Tempels genau auf den Hügel mit dem heutigen Kastro blickt, auf dem in der Antike sicher eine Akropolis gelegen hat. Es wäre denkbar, dass der Tempel auf ein wichtiges Gebäude in der Akropolis ausgerichtet war.

Spätere Nutzung des Tempels

Im 5. oder 6. Jahrhundert wurde der Tempel in eine christliche Kirche verwandelt (Panagía Palatianí). Dabei wurden tiefgreifende Äbderungen im Bau vorgenommen; unter anderem wurde der Fußboden um über 1 m nach unten verlagert, so dass die ehemaligen Fundamente des Tempels nun den untersten Teil der Wände der Kirche bildeten. In diesem Zusammenhang wurde auch der nun etwa 1,5 m über dem Fußbodenniveau liegende Mittelteil der Türschwelle herausgesägt. Um die große dreischiffige Basilika herum lag eine kleine byzantinische Siedlung, von der allerdings kaum Reste erhalten sind. Später wurden von den Venezianern fast alle Steine des ehemaligen Tempelgebäudes abgetragen und zum Bau des Kastros verwendet; nur die Fundamente und die Portára, die zu groß war, als dass die Venezianer sie hätten abtragen können, blieben übrig.


An diesem alten Gebäude im Kastro, vermutlich einem Wachtturm, kann man die im Mauerwerk verwendeten Marmorsteine des Apollon-Tempels sehen.


die Portara bei Sonnenuntergang; Foto von Brigitte Münch

Verwandtschaft und Gegensatz der Götter Apollon und Dionysos

Die beiden größten Tempel der Insel Naxos, nah bei ihrer Hauptsiedlung, der Chóra, gelegen, waren also den Göttern Dionysos und Apollon geweiht. Diese beiden Götter wurden in der Neuzeit meist als gegensätzliche Pole betrachtet. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass der Gott Dionysos mehrere dem Apollon verwandte Eigenschaften besaß: Auch er war Schutzgott des Ackerbaus und der Vegetation, auch er hatte mantische Fähigkeiten, auch er war eng mit der Musik verknüpft, auch er spielte eine wichtige Rolle im Verständnis von Leben und Tod. Seine Verwandtschaft zu Apollon wird durch nichts stärker verdeutlicht als den Glauben der Griechen, dass er im Winter die Herrschaft über das Orakel in Delphi übernahm, wenn Apollon bei den gesegneten Hyperboreern weit im Norden weilte.

Als Hauptunterschied zwischen den beiden Göttern wird ihr Verhältnis zur Ordnung betrachtet: Apollon verkörpert die Ordnung und Statik, das Klare und Reine, das im Philhellenismus so verehrt wurde, während Dionysos für das Dynamische, Lebendige, Losgelöste, Entfesselte, Ekstatische, ja Chaotische steht, das von den Gelehrten der Aufklärung als „niedrig“ oder orientalisch abgelehnt wurde. Die beiden Prinzipien wurden lange Zeit als vollständig gegensätzlich, ja feindlich, betrachtet und das Dionysische von der christlichen Religion und dem klassischen Philhellenismus missachtet und verdammt (den Teufel stellte man sich beispielsweise in der Gestalt eines Satyrn aus dem Gefolge des Dionysos vor).

Lange Zeit glaubte und behauptete man, dass Dionysos und das Dionysische erst nachträglich als fremde Elemente in die griechische Götterwelt aufgenommen worden seien. Heute ist freilich nachgewiesen, dass der Gott Dionysos in Griechenland (und insbesondere auf Naxos) schon seit während der mykenischen Periode verehrt wurde und dass er ebenso zur griechischen Gedankenwelt gehört wie Apollon. Dionysos und Apollon sind zwar unterschiedlich, aber nicht unvereinbar: Es handelt sich nach der Auffassung der alten Griechen um zwei sich ergänzende Seiten derselben Münze, nämlich des Lebens selbst, die damals jedenfalls koexistieren konnten – nur bei Berücksichtigung beider Prinzipien kann die wahre Harmonie des Lebens erfasst werden. Erst im letzten Jahrhundert begann man in der Wissenschaft erneut die tiefe Verknüpfung der beiden Prinzipien Ordnung und Chaos zu erahnen: Die Berührung von Ordnung und Chaos lässt unsere Welt erst entstehen.

Es ist bemerkenswert, dass die Bevölkerung von Naxos das Tempelbauwerk auf der Palátia-Insel noch heute nicht mit Apollon, sondern mit Dionysos verknüpft: Es wird als Palast der Ariadne bezeichnet, den Dionysos für seine Braut errichtet habe, nachdem diese von Theseus auf Naxos verlassen worden war. Ohne Zweifel ist Dionysos dem Volk von Naxos der wichtigste Gott gewesen; er war eben der ureigenste Gott der Insel, unlösbar mit Naxos verknüpft.

weiter: Der Dionysos-Tempel in Iria

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siehe auch:

zum Weiterlesen: Texttexturen: Das Apollinische und das Dionysische

Zum Inhaltsverzeichnis

verwendete Literatur:

  • Kunst und Kultur der Kykladen, Teil I: Neolithikum und Bronzezeit und Teil II: Geometrische und Archaische Zeit; Werner Ekschmitt; Verlag Philipp von Zabern, Mainz am Rhein 1986
  • Die Inselionische Ordnung, Gottfried Gruben; in: Les Grands Ateliers d’Architecture dans le Monde Egéen du VIe s. av. J.C., Koll. Istanbul 1993
  • Die Entwicklung der Marmorarchitektur auf Naxos und das neuentdeckte Dionysos-Heiligtum in Iria, Gottfried Gruben; Nürnberger Blätter zur Archäologie, 1991-’92

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